Ideen für eine andere Einteilung in Musikepochen

Georg Friedrich Dierschke

Da ich nicht beabsichtige, Ihnen eine wissenschaftliche Abhandlung zu bieten, sondern Anregungen geben möchte, verwende ich einen Vortragsstil unter Betonung der Subjektivität meiner Aussagen. Von Jugend an spüre ich ein Unbehagen an den nunmehr seit vielen Jahrzehnten üblichen Einteilungen in Musikepochen; bisweilen finde ich ähnliche Zweifel bei musikinteressierten Mitmenschen. Ich möchte deshalb meine Ideen, was mir - und vielleicht auch anderen - besser gefallen würde, kurz aufzeigen, auch auf die Gefahr hin, daß es wieder korrigiert werden sollte.

Das bedeutet für mich, Anstoß zu nehmen an der gemeinsamen Subsumierung von Schütz und Bach unter „Barock“, wo ich doch Schütz-Musik ähnlicher der von Johann Walter (1490-1570) empfinde. So sehe ich den (Gesangs-)Silbenakzent auf (normalerweise) unbetonten Taktteilen bei Schütz noch ausgeprägt, ab Buxtehude nicht mehr. Bestätigt wird mir die Grenzziehung aus der mitteleuropäischen Architekturgeschichte, die bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges mehr Renaissance- als Barockbauten verzeichnet. Auch Johann Crüger (1598-1663) und Johann Knechtel (ca. 1620 bis 1680) sehe ich jeweils im Durchschnitt mehr zur Luther/Schütz-Epoche als zur Buxtehude/Bach-Epoche gehörig.

Während des Musikschaffens von Johann Hasse (1699-1783) und von den Brüdern Graun (1703-1771 bzw. 1704-1759) verstärkt sich Homophonie und das Äußern der Gefühle, insbesondere in Verwendung von Ramler-Texten, bis C. Ph. Emanuel Bach (1714-1788); zur Homophonie kommt bald Verspieltheit bzw. vermehrte Leichtfüßigkeit hinzu, wie sie mir für Haydn und Mozart („Wiener Klassik“) typisch erscheint.

Von Mozart zu Carl Friedrich Zelter (1758-1832), Franz Danzi (1763-1826) usw. sehe ich einen erheblichen Entwicklungsschritt und von diesen einen weniger großen zu Schubert. Musik der Epoche Zelter/Schubert bedeutet mir verstärkte Sanglichkeit und vermehrten Bläsereinsatz, aber noch nicht das Anstreben extremer Wirkungen.

Hector Berlioz (1803-1869), Richard Wagner (1813-1883) usw. sind für mich Inbegriff von groben großen Lautstärkeunterschieden und von langandauerndem harmonischem Auskosten der Themen bis an die Grenze zu Akkorden, die bei mir mehr Abscheu (wegen Kakophonie) als Wohlbefinden hervorrufen würden. Dieses Anstreben von Maximierungen unter Beibehaltung angenehmer Akkorde empfinde ich auch noch bei Edward Elgar (1857-1934).

Gleichzeitig zum Berlioz/Elgar-Stil sehe ich ein Wiederaufnehmen der Leichtfüßigkeit der Graun/Mozart-Epoche durch die Strauß-Dynastie (Vater und Sohn) bis Künneke (1885-1953). Diese Komponisten produzieren Spaß in einer tändelnden bis ironisierenden Form, im Gegensatz zu dem bissigeren „Musikalischen Spaß“ (KV 522) von Mozart.

Noch während Berlioz/Elgar- und Strauß/Künneke-Stil große Wirkung entfalten, beginnt ein weiterer Stil, Platz zu greifen. Fremdländische Klänge - oder auch heimatliche, die den ausländischen Zuhörern den Reiz der Ferne bieten - werden viel verwendet: seien es asiatische, z.B. bei Puccini (1858-1924), seien es amerikanischer Jazz, z.B. bei Paul Abraham (1892-1960), sei es Ungarisches, z.B. bei Emmerich Kálman (1882-1953), oder nachempfundenes Mittelalterliches, z.B. bei Carl Orff (1895-1982), oder südamerikanischer Tango. Sie vermischen sich bisweilen mit sehnsuchtsvoller Süße, besonders in den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg.

Außerdem empfinde ich in wohlklingenden Musikwerken - d.h. in der eigentlichen Musik - der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen vierten Stil: Schlichte oder zurückhaltende Musik wird komponiert, z.B. von Armin Knab (1881-1951) und Hugo Distler (1908-1942).

Über die vielen nicht wohlklingenden („schrägen“) Kompositionen sowie über das Musikschaffen nach 1950 möchte ich meine Eindrücke verschweigen. Ein halbes Jahrhundert Abstand dürfte für eine nicht allzu kurzlebige Gefühlslage günstig sein. Die historische Grenze meiner Ideen ziehe ich bei Luther.

Zur Benennung der eben dargestellten epochemachenden Stile schlage ich folgende Tabelle vor:

Personennamen Stil-(Epoche-)Namen Zeitraum (orientiert an Mitteleuropa!)
... Gotik o.ä. bis 1520
Luther/Schütz Renaissance 1520 bis 1660
Buxtehude/Bach Barock 1650 bis 1760
Graun/Mozart Rokoklassik 1730 bis 1810
Zelter/Schubert Romantik 1800 bis 1840
Berlioz/Elgar Gigantik 1820 bis 1910
Strauß/Künneke Komödik 1840 bis 1940
Puccini/Winkler Exotik ab 1900
Knab/Distler Sophrosynie ab 1900
... Globalik o.ä. ab 1950

Bei meiner Wahl von Epochen-Namen bin ich mir im klaren, daß ich Begriffe der herrschenden Musikwissenschaft anders definiere, anders abgrenze und neue Begriffe dorthin setze, wo „Impressives“ und „Expressives“ in der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts oder „Idealismus“ und „Realismus“ oder „Klassizismus“ und „Naturalismus“ oder „Neo...ismus“ und „Folklorismus“ auch weiterhelfen würden. Aber ich glaube, die andere zeitliche Abgrenzung von „Renaissance“ bis „Romantik“ in meinen einleitenden Ausführungen - Gefühlsdarstellungen, die vielleicht weit verbreitete Empfindungen dokumentieren - begründet zu haben und bei der Begriffswahl „Gigantik“ bis „Sophrosynie“ (altgriechisch für „Schlichtheit“) das Wesentliche besser zu treffen.

Auf welchen Listen von Komponisten i.w.S. diese Einteilung hinauslaufen kann, will ich am Beispiel meiner Prioritäten verdeutlichen.

In dem gewohnten Bild mit Balken als Lebenszeitraum versuche ich die - oft nur vermutete - wirksame Phase des Komponisten durch eine waargerechte Doppellinie hervorzuheben. Dem, der in verschiedenen Stilen komponiert hat, wird nur 1 Stil (Epoche) zugeordnet, allerdings mit einer Ausnahme. Beethoven empfinde ich als einen Festlichkeit ausstrahlenden Überflieger von der späten Rokoklassik über die Romantik zur Gigantik, am Beispiel seiner Sinfonien: von der 1. und 2. über die 3. bis 6. zur 7. bis 9.

Meine Vorliebe für Blasinstrumente und Gesang (also Luftsäulen) gegenüber Streichinstrumenten und Klavieren (also Saiten) dürfte dem Musikkenner auffallen, aber vielleicht auch nachdenklich machen, ob die Auflistung nicht dennoch ausgewogener als manche andere ist. Das Nichterscheinen der oft dargebotenen Komponisten von Klangbrei oder unangenehmen Akkordfolgen (Bruckner bis Strawinsky) sollte nicht verwundern. Würde ich alle Werke der von mir aufgeführten Komponisten kennen, würde ich sicherlich die eine oder andere Zuordnung zu einem Stil oder zu einer Epoche ändern.

Ich vermute, mit meiner Auswahl dem nahe zu kommen, was heute den vielen geistig aufgeschlossenen musikinteressierten Mitteleuropäern gefällt oder gefallen würde, wenn sie es hören würden, z.B. die meisten Sendungen von Radio Swiss Classic.