Ein musikerfahrener langjähriger Kirchenmusiker beurteilte vor vielen Jahren einen ihm vorgelegten namenlosen vierstimmigen Tonsatz zu einem bekannten Choral mit „Gut! Man hat das Gefühl: So muß es sein.“
Wenige Jahre später gab ich denselben Satz einem jüngeren studierten Kirchenmusiker zur Bewertung. Er fertigte eine schriftliche Analyse, die vierzehn Verstöße gegen die Kontrapunktik auflistete,
und benutzte als zusammenfassendes Urteil das Wort „heikel“, meinte damit aber wohl „unmöglich“. Verdutzt erbat ich von einem vielseitigen Kirchenmusiker, der etwas Musikstudium und viel Musikerfahrung aufwies,
seine Stellungnahme und bekam zu hören: „Klanglich gut; Mittelstimmen bisweilen zu sprunghaft. Nur beckmesserisch wäre weitere Kritik.“
Der 14-Punkte-Mann war ein auffallend schneller Analytiker, der beim Einüben in Chorproben so ganz nebenbei in Sätzen von Bach und Händel Quintparallelen feststellte,
diese aber nicht zu kritisieren wagte.
Woran liegt die unterschiedliche Beurteilung seitens der drei Kirchenmusiker?
Bei anderen Choralsätzen, die ich weiteren Chorleitern vorlegte, schälte sich immer klarer ein Zusammenhang zwischen Musikstudium und Urteil heraus:
Der Musiker mit einschlägigem Studium verlangt in Sätzen, die am Wohlklang orientiert sind, weitestgehende Beachtung des Kontrapunktes. Beim erfahrenen
Musikliebhaber sieht das anders aus: Sein Gehör ist nicht durch Musikdozenten auf strenge Regeleinhaltungen getrimmt, sondern dem Empfinden breiterer
Bevölkerungskreise näher.
Doch welche Beurteilung ist die richtige?
Die gibt es gar nicht. Wohlklang ist in erheblichem Maße Geschmacksache. Der Musikinteressierte ohne Studium ist mit einer breiteren Palette von konsonanten
Stücken und einer schmaleren an dissonanten Stücken hochzufrieden als der mit Studium. Er neigt bei häufigerem Kontakt mit Urteilen Studierter aber dazu,
sich dem Urteil dieser als Fachleute angesehenen Profis anzuschließen. Das ist jedoch nur dann zweckmäßig, wenn es um die Zufriedenheit der kleinen Gruppe
der Profis geht.
Exkurs:
Mal sehr grob geschätzt, gibt es in Deutschlands Bevölkerung 0,1% Musikprofis der E-Musik, knapp 10%, die E-Musik hoch schätzen,
ohne Profi zu sein, und 90% sonstige Musikkonsumenten. Diese Zahlen-Proportionen erinnern etwas an die Machtverhältnisse in der deutschen Demokratie,
über die neuerdings zu lesen ist: 1% hat die Macht, 4% helfen ihm dabei, 5% wissen bessere Politik, 90% schlafen und werden gegen die vergeblichen
Weckversuche der 5% von den 1+4% im Schlaf gehalten.
Komponistenauswahl und öffentliche Konzertbesprechungen würden der Bevölkerung einen größeren Dienst als bisher erweisen,
wenn sie sich mehr am Empfinden aller E-Musikinteressierten als an den wenigen Musikprofis orientieren würden.
Allgemein klar ist, daß dauernde Parallelführungen von Stimmen weniger befriedigend sind als Abstandsveränderungen.
Kompositionen sollten einem abwechslungsreichen Gewebe ähneln, damit sie als schön empfunden werden;
bei einfacher tuchgeweblicher Gleichmäßigkeit stellt sich Langeweile ein. An den Grenzen von Phrasen und an Atem- und längeren Pausen
stören quintparallele Verschiebungen den normalen Musikinteressierten nicht. Solche Parallelen können bei entsprechender Text-
oder sonstiger Dramatik sogar zu einer Verbesserung des Musikgenusses führen.
Im ganzen gilt nämlich :
Komponieren ist eine Kunst, die mehr mit genialem Können als mit gelerntem Können zu tun hat.